„Code Red“ im Unternehmen: Erste-Hilfe durch Coaching
Stellen Sie sich nun vor, Sie stehen auf der Brücke eines großen Fähre. Plötzlich leuchten alle Warnlampen rot, ein schriller Alarmton zerreißt die Routine, und aus dem Maschinenraum dringen laute Rufe. Es gibt ein Leck im Schiffsrumpf. In diesem Moment gibt es nur eine Aufgabe: Das Schiff wieder dicht zu bekommen. Gedanken an die ursprüngliche Route, das Wetter auf See oder den Service in der Business-Class sind vollkommen irrelevant. Es geht ums nackte Überleben.
Eine akute Unternehmenskrise fühlt sich oft genauso an. Ein wichtiger Großkunde bricht weg, ein Cyberangriff legt die gesamte IT lahm, oder ein Skandal sorgt für ein verheerendes Medienecho. Der Schock sitzt tief, Adrenalin flutet das System, und die Gefahr von Kurzschlusshandlungen ist immens.
In unserem letzten Artikel haben wir darüber gesprochen, wie man die leisen Risse im Fundament erkennt, bevor der Damm bricht. Aber was tun, wenn das Wasser bereits über die Ufer tritt? In dieser Phase der akuten Intervention geht es nicht um langfristige Strategien, sondern um effektive Erste Hilfe. Es geht darum, vom panischen Reagieren ins kontrollierte Agieren zu kommen.
In diesem Artikel zeigen wir Ihnen, wie Coaching in diesen kritischen ersten Stunden und Tagen als die ruhige, ordnende Stimme auf der Brücke fungiert. Wir beleuchten die drei entscheidenden Schritte, um das Unternehmen zu stabilisieren: die emotionale Deeskalation, die Etablierung eines handlungsfähigen Krisenstabs und die gnadenlose Priorisierung unter Hochdruck.
Emotional Deeskalieren: „Rationale Piloten“ ans Steuer lassen
Die erste Reaktion auf eine akute Bedrohung ist biologisch tief in uns verankert. Unser Gehirn schaltet in den Notfallmodus, die Amygdala – unser Angstzentrum – übernimmt das Kommando. Logisches Denken wird zur Nebensache; die Instinkte Kampf, Flucht oder Erstarrung dominieren. Im Unternehmenskontext äußert sich das in hektischem Aktionismus, gegenseitigen Schuldzuweisungen oder einer lähmenden Unfähigkeit, überhaupt eine Entscheidung zu treffen.
Ein Coach ist in diesem Moment kein Therapeut, sondern ein „State Manager“. Seine erste Aufgabe ist es, dem Führungsteam zu helfen, aus diesem emotionalen Tunnelblick auszubrechen und den präfrontalen Kortex – unser rationales Denkzentrum – wieder zu aktivieren.
Wie funktioniert das konkret?
- Anerkennen, was ist: Der schlimmste Fehler in dieser Phase ist es, die Situation schönzureden. Ein Coach wird eine Führungskraft nicht mit „Wird schon nicht so schlimm“-Floskeln beruhigen. Stattdessen validiert er die Wahrnehmung: „Ja, die Lage ist extrem ernst. Es ist absolut verständlich, dass Sie jetzt unter enormem Druck stehen.“ Diese Anerkennung nimmt dem Gefühl der Panik die Kraft und schafft eine Basis für den nächsten Schritt.
- Den Fokus verengen: Die Gesamtheit der Krise ist oft überwältigend. Der Gedanke an alle Konsequenzen lähmt. Ein Coach lenkt den Fokus daher gezielt vom „Was-wäre-wenn“-Katastrophenszenario auf die eine, machbare nächste Handlung. Die Frage ist nicht: „Wie retten wir die ganze Firma?“, sondern: „Was ist der wichtigste Anruf, den wir in den nächsten 30 Minuten tätigen müssen?“ Dieser winzige Schritt macht aus einem unbezwingbaren Berg einen begehbaren Pfad.
- Der Coach als emotionaler „Container“: Führungskräfte fühlen oft den Druck, nach außen Stärke und Kontrolle demonstrieren zu müssen. Doch wohin mit der eigenen Angst und Frustration? Ein Coaching bietet den geschützten, vertraulichen Raum, in dem diese Emotionen abgelassen werden können, ohne das Team zu verunsichern. Der Coach agiert wie ein Blitzableiter, der die emotionale Überspannung aufnimmt, damit die Führungskraft mit klarerem Kopf zu ihrer Mannschaft zurückkehren kann.
Erst wenn die erste emotionale Welle gebrochen ist, kann überhaupt strukturiert gehandelt werden.
Einen Krisenstab etablieren: Struktur im Chaos schaffen
In einer Krise sind die normalen, hierarchischen Strukturen eines Unternehmens oft zu langsam und zu schwerfällig. Zuständigkeiten sind unklar, Kommunikationswege zu lang. Es braucht eine schnelle, flexible und schlagkräftige Einheit: einen Krisenstab.
Doch wer soll da rein? Wer hat das Sagen? Und wer macht was? Ohne eine klare Antwort auf diese Fragen entsteht Chaos im Chaos. Teams arbeiten aneinander vorbei, treffen widersprüchliche Entscheidungen und verlieren wertvolle Zeit.
Ein Coach agiert hier als neutraler Moderator, der hilft, diesen Krisenstab schnell und effektiv aufzusetzen. Seine Rolle ist es, die richtigen Fragen zu stellen, um die Struktur zu klären:
- Wer gehört ins Kernteam? Es geht nicht darum, die gesamte Führungsebene an einen Tisch zu setzen. Es geht um die richtigen Kompetenzen. Der Coach fragt: „Wer hat die Informationen (z.B. IT-Leiter bei Cyberangriff)? Wer hat die Entscheidungskompetenz (CEO/Geschäftsführer)? Wer muss die Kommunikation steuern (PR/HR)? Wer kennt die rechtlichen Rahmenbedingungen (Justiziar)?“ So entsteht ein kleines, funktionsübergreifendes Team von 5-7 Personen, das handlungsfähig ist.
- Wer hat welche Rolle? Die wichtigste Frage ist: Wer ist der oder die „Chefin“? Es muss eine Person geben, die am Ende die finale Entscheidung trifft, auch bei unvollständiger Informationslage. Der Coach hilft, diese Rolle klar zu benennen und vom Team akzeptieren zu lassen. Weitere Rollen wie der „Kommunikator“, der „Analyst“ oder der „Protokollführer“ werden klar verteilt. Das verhindert Kompetenzgerangel und schafft Effizienz.
- Welche Regeln geben wir uns? Chaos wird durch Routine bekämpft. Der Coach hilft, einen klaren Rhythmus zu etablieren: „Wir treffen uns jeden Morgen um 8 Uhr für 30 Minuten und jeden Abend um 18 Uhr für ein kurzes Update. Die Kommunikation läuft ausschließlich über diesen einen Kanal.“ Diese einfachen Regeln schaffen eine vorhersehbare Struktur und geben den Beteiligten in einer unvorhersehbaren Zeit Halt.
Durch diesen Prozess wird aus einer Gruppe panischer Individuen ein koordiniertes Einsatzteam.
Priorisierung unter Druck: Die Kontrolle zurückgewinnen
Ist der Krisenstab etabliert und emotional arbeitsfähig, droht die nächste Gefahr: kopfloser Aktionismus. Man will alles gleichzeitig tun, an allen Fronten kämpfen und jedem Problem die gleiche Aufmerksamkeit schenken. Das Ergebnis: Man verzettelt sich, verschwendet Energie und löst am Ende keines der Kernprobleme.
Die Kunst der Akutintervention liegt in der brutalen Priorisierung. Es geht darum, die eine oder die zwei Stellschrauben zu finden, die den größten Einfluss auf die Stabilisierung haben. Ein klassisches Werkzeug, das ein Coach hier oft adaptiert, ist die Eisenhower-Matrix, zugespitzt auf die Krise:
- Wichtig & Dringend (Sofort selbst erledigen): Das sind die „Feuerlösch-Aufgaben“. Sie müssen sofort vom Krisenstab bearbeitet werden, um den unmittelbaren Absturz zu verhindern. Beispiel: Die Server sind down. Die Wiederherstellung hat absolute Priorität.
- Wichtig & Nicht Dringend (Planen & Vorbereiten): Das sind die strategischen Themen, die für die Lösung der Krise entscheidend sind, aber nicht in der nächsten Stunde erledigt werden müssen. Beispiel: Die Entwicklung einer umfassenden Kommunikationsstrategie für die Kunden. Diese Aufgaben werden terminiert und einer verantwortlichen Person zugewiesen.
- Dringend & Nicht Wichtig (Delegieren): Das sind die typischen Zeitfresser. Anfragen, die laut schreien, aber nicht zur Lösung des Kernproblems beitragen. Beispiel: Ein anderer Fachbereich fragt nach einem detaillierten Bericht über die möglichen Auswirkungen in drei Monaten. Hier coacht der Coach die Führungskraft, diese Aufgaben konsequent abzugeben, um den Fokus zu wahren.
- Nicht Wichtig & Nicht Dringend (Ignorieren): Alles andere. In einer akuten Krise muss alles, was nicht der direkten Stabilisierung dient, radikal eliminiert werden. Beispiel: Die Planung des Sommerfestes.
Der Coach agiert hier als „Fokus-Wächter“. Er stellt immer wieder die unbequeme Frage: „Ist das, was wir gerade tun, wirklich eine ‚Feuerlösch-Aufgabe‘? Oder lassen wir uns von etwas Dringendem, aber Unwichtigem ablenken?“ Dieser Prozess hilft dem Team, seine knappen Ressourcen auf die entscheidenden Punkte zu konzentrieren und so Schritt für Schritt die Kontrolle zurückzugewinnen.
Praxistipp: Ihr Sofort-Anker im Sturm – Die 4×4-Box-Atmung
Wenn Sie merken, wie die Panik aufsteigt und Ihr Kopf leer wird, nutzen Sie diese einfache Technik. Sie dauert nur eine Minute und aktiviert Ihr parasympathisches Nervensystem, das für Ruhe und Entspannung zuständig ist. Führen Sie sie vor einem wichtigen Anruf oder einer kritischen Sitzung durch.
- Einatmen (4 Sekunden): Atmen Sie langsam und tief durch die Nase ein und zählen Sie dabei innerlich bis vier.
- Halten (4 Sekunden): Halten Sie die Luft an und zählen Sie wieder bis vier.
- Ausatmen (4 Sekunden): Atmen Sie langsam und vollständig durch den Mund aus und zählen Sie dabei bis vier.
- Halten (4 Sekunden): Halten Sie den Atem bei leerer Lunge erneut für vier Sekunden an.
Wiederholen Sie diesen Zyklus vier- bis fünfmal. Sie werden spüren, wie Ihr Puls sinkt und Ihr Kopf wieder klarer wird.
Fazit: Vom Feuerwehrmann zum Einsatzleiter
Die Phase der Akutintervention ist kein Marathon, sondern ein Sprint. Es geht nicht darum, die Krise vollständig zu lösen, sondern darum, den freien Fall zu stoppen, das System zu stabilisieren und die Handlungsfähigkeit wiederherzustellen. Die Ziele sind klar: Emotionen kontrollieren, eine klare Struktur schaffen und die Prioritäten richtig setzen.
Durch diese „Erste-Hilfe-Maßnahmen“ verwandelt sich das Führungsteam vom panischen Feuerwehrmann, der wahllos Wasser verspritzt, zum überlegten Einsatzleiter, der seine Ressourcen gezielt dort einsetzt, wo sie die größte Wirkung haben.
Doch diese Phase fordert einen hohen Tribut, insbesondere von den Führungskräften. Sie stehen an vorderster Front und sind einer enormen Belastung ausgesetzt. Nachdem das unmittelbare Feuer unter Kontrolle ist, müssen wir uns daher um die „Feuerwehrleute“ selbst kümmern.
Genau darum wird es in unserem nächsten Artikel gehen: „Führungskräfte-Coaching“. Wir beleuchten, wie Führungskräfte in der Krise ihre eigene Stärke bewahren und ihrem Team den nötigen Halt geben können. Bleiben Sie dran.

